Weltretter Stanislaw Petrow: Der Mann, der die Menschheit vor der atomaren Katastrophe bewahrte (2024)

von Jens-Rainer Berg

4 Min.

Im Herbst 1983 ist der Kalte Krieg so heiß wie selten zuvor. Da wirdam 26. September 1983in einem Raketenfrühwarnzentrum bei Moskau einamerikanischer Nuklearangriff gemeldet. Plötzlich liegt das Schicksal der Menschheit in den Händen desOffiziers StanislawPetrow. Soll er den Gegenschlag einleiten – oder hat er es mit einem Fehler zu tun?

Eigentlich sollte er gar nicht hier sein. Ein anderer Offizier hat sich krankgemeldet, und Oberstleutnant Stanislaw Petrow, klein, schmächtig, mit der Aura eines Nerds, ist an diesem 26. September 1983 lediglich kurzfristig als Ersatz eingesprungen. Um 20 Uhr hat der 44-Jährige seine Schicht als Leiter der Satellitenüberwachung im geheimen Raketenfrühwarnzentrum der Sowjetunion, 130 Kilometer südlich von Moskau, angetreten. Die Anlage ist erst seit einem knappen Jahr in Betrieb. Hochmodern. Fünf Satelliten, die permanent die USA scannen, ein Supercomputer, der die Daten auswertet. Das Ziel: zu erkennen, ob und wann der Erzfeind einen Atomschlag ausführt.

Zunächst ist der Abend ruhig, um 22 Uhr gibt es Tee und ein paar Brote, Mitternacht verstreicht. Um 0:15 Uhr aber erfüllt plötzlich gellender Lärm den Überwachungsraum, in dem mehrere Mitarbeiter an ihren Geräten sitzen. Ein Stakkato von Sirenentönen, dazu aufblitzende Schriftfelder auf einem gewaltigen Monitor an der Wand, der die Umrisse der Sowjetunion und der USA zeigt: Das System meldet den Start einer nuklear bestückten Interkontinentalrakete von einer US-Basis im Bundesstaat Montana. Der Ernstfall.

Ist das tatsächlich der Beginn einer amerikanischen Attacke, der Startschuss zum atomaren Krieg? Petrow muss jetzt extrem schnell entscheiden, denn ab einem feindlichen Raketenabschuss bleiben der sowjetischen Führung nur rund 30 Minuten Zeit, um den Befehl zum Gegenschlag auszugeben und die Schutzbunker aufzusuchen. Den Offizier durchfahren Hitzewellen, er schwitzt. Doch er zögert, den Alarm an das militärische Oberkommando weiterzugeben.

Denn würde nicht ein echter Angriff der USA mit einer ganzen Reihe von Raketen von unterschiedlichen Stützpunkten gleichzeitig beginnen? So haben sie es auf der Akademie gelernt. Andererseits: Wohl selten war ein solcher Angriff wahrscheinlicher als in diesem Herbst.

Weltretter Stanislaw Petrow: Der Mann, der die Menschheit vor der atomaren Katastrophe bewahrte (1)

Denn im Jahr 1983 befindet sich der Kalte Krieg, jenes Ringen der westlichen und östlichen Machtblöcke, das die Welt seit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geopolitisch in seinem alles bestimmenden Griff hält, in einer neuen brenzligen Hochphase. Nach einer gewissen Entspannung in den 1970ern, stehen sich USA und Sowjetunion erbitterter als je zuvor gegenüber: In Afghanistan, in das Moskau 1979 einmarschiert ist, wütet ein Stellvertreterkrieg. Und in den USA verschärft der republikanische Präsident Ronald Reagan mit antikommunistischer Leidenschaft Ton und Taten. Im März 1983 bezeichnet er die UdSSR als „Reich des Bösen“, sieht sich in einem epischen „Kampf zwischen Recht und Unrecht“.

Bislang hatten sich die beiden Staaten in einem Gleichgewicht des Schreckens ausbalanciert, erzeugte das düstere Versprechen gegenseitiger atomarer Auslöschung eine gewisse Stabilität; doch Reagan setzt nun auf eine massive Erhöhung der eigenen Militärausgaben, auf einen neuen Rüstungswettlauf, der die UdSSR ruinieren soll. Er gibt zudem bekannt, dass die USA ein im All stationiertes Raketenabwehrsystem (SDI) entwickele, das eine sowjetische Atomattacke werde abfangen können.

Moskau ist alarmiert. Die UdSSR hat längst Schwierigkeiten, technisch und vor allem finanziell mitzuhalten. Außerdem ist sie an der Spitze geschwächt. Leonid Breschnew ist 1982 gestorben. Sein Nachfolger Jurij Andropow ist mit 68 Jahren der älteste Generalsekretär, der jemals ins Amt gehoben wurde. Andropow, vorher KGB-Chef, traut Reagan zu, dass er einen Überraschungsangriff auf die Sowjetunion plane – umso mehr, als SDI, von dem Moskau nicht weiß, dass es tatsächlich nicht sehr weit gediehen ist, die Möglichkeit einer russischen Vergeltung zunichte machen würde.

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So groß ist die Anspannung im Kreml, dass sowjetische Abfangjäger Anfang September 1983 sogar ein südkoreanisches Verkehrsflugzeug abschießen, das offenbar unabsichtlich in den Luftraum der UdSSR eingedrungen war. 269 Menschen sterben.

Die Weltlage scheint hochsensibel, wirkt wie stets kurz vor der finalen Eskalation zwischen zwei Supermächten, die zusammen über fast 20000 atomare Sprengköpfe verfügen. Jeder davon zehntausendfach tödlich.

Als Oberstleutnant Stanislaw Petrow gut drei Wochen später im Kontrollraum die Alarmsignale pulsieren hört und sieht, weiß er also was auf dem Spiel steht, kennt die Gefahren, Risiken, die Ängste. Wird er derjenige sein, der rechtzeitig einen begründeten Alarm weitergibt, um seinem Land die Gelegenheit zur Reaktion zu geben? Oder derjenige, der genau das versäumt und seine Heimat damit in die Verdammnis schickt? Oder, dritte Möglichkeit: Sitzt er einer Fehlwarnung auf und löst damit den Atomkrieg überhaupt erst aus?

Kann die Maschine wirklich derart irren?

Ein Vorteil: Petrow, studierter Ingenieur, hat die Algorithmen des Computersystems, das hier am Werk ist, beim Militär selbst mitentwickelt. Er weiß, dass die ganze Apparatur, in großem Tempo installiert, weit davon entfernt ist, reibungslos zu arbeiten. Und so meldet er seinem Vorgesetzten falschen Alarm.

Wenig später jedoch trudeln weitere Warnbotschaften ein. Der Computer signalisiert insgesamt vier zusätzliche Raketenstarts in den USA. Kann die Maschine wirklich derart irren?

Petrow aber bleibt bei seiner riskanten Einschätzung – und behält schließlich Recht. Nach insgesamt 17 Minuten ist klar, dass tatsächlich keine Raketen heranfliegen – die Sensoren eines der Satelliten haben von Wolken reflektierte Sonnenstrahlen als Raketenabschüsse gewertet. Die Krankheitsvertretung hat den dritten Weltkrieg verhindert.

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Kalter Krieg Wie ein Atomkrieg die Welt hätte vernichten können – ein Szenario

Mehrmals entgeht die Erdbevölkerung während des Kalten Krieges knapp einem atomaren Waffengang. Doch was wäre geschehen, wenn in einem solchen Moment alles schief­gelaufen wäre? Ein –halb fiktives– Szenarioeiner Katastrophe, die glücklicherweise nie eingetreten ist

Die Gefahr ist auch danach noch nicht gebannt. Ein großes NATO-Manöver im November 1983 schürt die Sorge der Sowjetunion erneut. Erst ab Mitte der 1980er entspannt sich die Lage allmählich – auch dadurch, dass mit Michail Gorbatschow der Vertreter einer neuen Generation die Verantwortung in Moskau übernimmt.

Die Tat wurde vertuscht, der Held entlassen

Lange Zeit erfährt die Welt nicht, wie knapp sie im Herbst 1983 dem atomaren Inferno entgangen ist: Der Vorfall bleibt streng geheim. Petrow erhält, nach großer Erleichterung im Kommandoraum in jener Nacht, zunächst auch keinerlei Würdigung. Im Gegenteil: Weil er nicht dem vorgesehenen militärischen Protokoll gefolgt ist – das den Krieg möglicherweise ausgelöst hätte –, wird er im Jahr darauf aus dem Militär entlassen, zu stark reduzierten Pensionsbezügen.

Erst 1993, neun Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst und drei Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, wird Petrows große Tat bekannt. Er erhält Ehrungen, unter anderem von UN-Generalsekretär Kofi Annan, der ihm eine kleine Statue mit einer Weltkugel zukommen lässt, darauf die Worte: „To Stanislav Petrov, The Man Who Saved the World“. Die Statuette ziert das ärmliche Appartement in einer Moskauer Vorstadt, das der ehemalige Offizier lange Zeit bewohnt.

Im Jahr 2017 stirbt Petrov. Seine eigene Bedeutung hat er zeitlebens eher nüchtern gesehen: „Ich war die richtige Person zur richtigen Zeit, das ist alles.“ Und das nur, weil jemand kurzfristig abgesagt hatte.

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